Was hat Schrift mit Dreidimensionalität zu tun? Gerade unsere Buchstaben sind zu Bild gewordene Sprache, sind also Zeichen, die mit dem Laut nichts zu tun haben. Heute noch ist dies in der chinesischen Schrift anders: die Zeichen haben einen direkten Bildbezug, sie sind Piktogramme. Ursprünglich war dies so auch bei den ägyptischen Hieroglyphen. Bei den Phöniziern vollzog sich die Wandlung hin zur Konsonantenschrift, die schließlich bei den Griechen zu einer Silben- und Konsonantenschrift wurde, so wie wir sie heute noch benutzen (ganz nebenbei wurde durch diese Schrift unsere europäische Philosophie möglich, da durch Lautschrift Prozesse besser beschrieben werden können als bei Bildschriften).
Warum also gibt es so viele dreidimensionale Schriften? Ist gerade der hohe Abstraktionsgrad Grund für die Sehnsucht, Inhalte zu »materialisieren«?
Von Anfang an kannte die Buchkunst in den Skriptorien der Klöster eine reiche Verzierung den Initialen, der Anfangsbuchstaben eines Kapitels. Blattwerk aus der Natur durchdrangen die Formen der Buchstaben. Oder die Buchstaben wurden direkt zu menschlichen Figuren wie in dem französischen Stundenbuch aus dem Ende des 15.Jahrhunderts. In der Bibel von Gutenberg sieht man, wie diese Initialen direkt aufgemalt wurden, denn mehrfarbige Drucke waren zu dieser Zeit noch sehr aufwendig. Erst die Lithografie im 19. Jahrhundert erleichterte dabei die Arbeit erheblich. Vorlagen für Plakate und Anzeigen konnten direkt auf Stein gezeichnet werden. Schriften wurden perspektivisch dargestellt, damit sie in der großstädtischen Umgebung Aufmerksamkeit erweckten.
Der nächste Schritt der Befreiung war die Möglichkeit der Integration von Fotografie in die Gestaltung. Die Technik Fotografien durch Rasterung auf Papier zu drucken beflügelte die Fantasie der Typografen. Künstler wie der Tscheche Karel Teige, 1929 Gastprofessor am Bauhaus Dessau, benutzten gerne diese neuen technischen Möglichkeiten für ihre Ideen. Aber nicht nur die Fotografie, sondern auch der neue Blick auf Architektur und Film veränderten die Bildsprachen der Grafik Designer. Ein Beispiel dafür ist das Plakat »Monza 17 ottobre 1948« des Schweizers Max Huber. Mit dem Film schließlich entdeckte man die visuellen Möglichkeiten des Filmvorspanns (Trailer) für die Typografie. Noch vor dem Desktop-Computer experimentierte die Agentur R/Greenberg Associates in dem Vorspann zu dem Film »Superman« von 1978, indem sie den digital erzeugten Schriftzug durch den Weltraum schweben lies. Film und Fernsehen benutzte diese von speziellen Computern erzeugten digitalen Effekte in den 80iger und 90iger Jahren oft. Heute ist die Technik so weit, dass fast jeder Computer-User mit seinem Laptop und Programmen wie Maya, After Effects und Flash Buchstaben animiert und interaktiv anwenden kann.
Neben der Darstellung und Simulation von dreidimensionalen Schriften wird von Anfang an auch umgekehrt Schrift als Körper benutzt. Steinbildhauer formen Buchstaben aus dem Stein und Gutenberg schneidet Buchstaben aus Holz, damit er sie einfärben und auf Papier abdrucken konnte. Heute sind der Messebau, Lichtwerbung für Firmen und Läden und Leitsysteme im urbanen Raum ohne Schriftkörper nicht mehr denkbar. Eine Höhepunkt in der Gestaltung von dreidimensionalen Buchstaben ist die Arbeit des Japaners Takenobu Igarashi. Bei ihm stimmt der Begriff visuelle Forschung, da er mit unterschiedlichsten Materialien wie Metall, Beton, Plexiglas etc. Buchstaben spiegelt, dreht oder im Plakat variiert. In Großbritannien finden wir zwei interessante Beispiele. In der Nähe von Edinburgh hat der Künstler Ian Hamilton Finlay einen Garten angelegt: beim Durchwandern des Gartens entdeckt der Besucher immer wieder Steine und Skulpturen mit philosophischen Wörtern und poetischen Sätzen. Die Designgruppe Why Not Associates entwickelt nicht nur Werbe - und Designkampagnen, sondern gestaltet auch den öffentlichen Raum mit Schrift, z.B. Sitzflächen in der Form von Buchstaben oder Gehwege werden mit Texten „gepflastert“. Der Umgang mit Design, Werbung und Kultur scheint hier im englischsprachigen Raum offener zu sein.
Auch die Medienkunst bedient sich gerne der dreidimensionalen Buchstaben. Ein Beispiel ist hier die Installation »Legible City« 1991 von Jeffrey Shaw. Der Museumsbesucher kann bei dieser Installation auf einem Fahrrad fahren und sieht vor sich auf einer Videoprojektion dreidimensionale Buchstaben, die den Stadtplänen von Manhattan, Amsterdam oder Karlsruhe entsprechend angeordnet sind.
Seit ein paar Jahren ist im Grafik Design und bei den Arbeiten von Studenten eine Hinwendung wieder zu »handwerklichen« Entwürfen erkennbar. Nach einer Zeit, in der allein der Computer im Mittelpunkt stand, wird heute wieder entspannter mit dem Computer als einem normalen Werkzeug gearbeitet. Es wird wieder genäht, schabloniert, geklebt, alltägliche Materialien verwendet usw. Man kleidet sich sogar mit Buchstaben, wie die Gruppe Ping Pong und das Projekt »In Alphabetical Order«. Oder man gestaltet Sitzmöbel aus Buchstaben wie die Gruppe Walking-Chair, die Studenten des Fachbereichs Mediendesign bei der Exkursion 2007 in Wien besucht hatten.
Zum Schluss noch Rand-Aspekte der dreidimensionalen Typografie: es gibt immer wieder Projekte, die z.B. ein Alphabet mit Fundstücken oder fotografischen Ausschnitten bilden (Lisa Rienermann aus Essen hat z.B. ein Alphabet fotografiert mit Innenhof-Blicken zum Himmel). Und der menschliche Körper wird direkt als Fläche für Typografie verwendet (z.B. Stefan Sagmeister ritzte sich sein Aiga-Plakat auf seine Haut, der Regisseur Peter Greenaway drehte den Film »The Pillow Book«, in dem Gedichte direkt auf die Haut geschrieben werden).
Wer das Thema weiter vertiefen möchte, dem sei das kleine Buch »Dimensional Typography - A Kiosk Report« von J. Abbott Miller empfohlen. Hier werden systematisch Buchstaben rotiert, extrudiert, schattiert, modularisiert, mit ihnen experimentiert.
Frank-Joachim Grossmann